Walburga Fröhlich wuchs auf einem südsteirischen Bauernhof auf, studierte nach der Matura Sozialarbeit, absolvierte die Ausbildung zur Supervisorin und Organisationsberaterin. Am Beginn ihrer beruflichen Laufbahn baute sie eine Beratungseinrichtung für die Eltern behinderter Kinder auf. Auf der Suche nach dem idealen Kindergarten für ihren eigenen Nachwuchs gründete sie kurzerhand einen eigenen; nach dem Wiedereinstieg entwickelte und leitete sie den Beratungsbereich bei der Organisation alpha-nova. Im Jahr 2000 gründete sie gemeinsam mit Klaus Candussi das Sozial-Unternehmen atempo und führt es seither als Co-Geschäftsführerin.

Klaus Candussi absolvierte zunächst das Studium der Musikwissenschaft und arbeitete als Journalist, fand dann aber den Weg in die soziale Arbeit. Mit einem Studium an der WU Wien erwarb er die Qualifikation für verschiedene Leitungsfunktionen, die er in Organisationen der Behindertenarbeit ausübte. So etwa bei alpha-nova, das er gemeinsam mit anderen 1992 gründete, um die Missstände in der Betreuung fehlplatzierter Patienten der Grazer Psychiatrie zu beseitigen. Im Jahr 2000 gründete er gemeinsam mit Walburga Fröhlich das Sozial-Unternehmen atempo und führt es seither als Co-Geschäftsführer.

Wer will, dass Informationen wirklich ankommen, der setzt mittlerweile oft auf Leicht Lesen (auch: Leichte Sprache) Angebote.

Lösungen, die Menschen mit Lernschwierigkeiten beim Verstehen helfen sollen, werden immer mehr als hilfreiche Lösungen für breite Bevölkerungsgruppen entdeckt. Mit Beiträgen aus den verschiedensten Disziplinen – von der Linguistik über Menschen- und Verwaltungsrecht, von Soziologie zu Theologie, von Informatik bis Architektur ist jetzt der Fachdiskurs zu diesem neuen Thema eröffnet.

Welche Leidenschaft treibt Euch an?

Unsere Leidenschaft ist das Lernen. Besser gesagt, das Lernen möglich zu machen. Was wir gesehen haben, sind viele Menschen, die man geistig behindert nennt, und die trotzdem so vieles lernen können, wenn man an sie glaubt und sie dabei richtig unterstützt. Die Suche nach den „richtigen“ Mitteln und Wegen für die Entwicklung dieser Menschen treibt uns an.
Das Logo unserer Organisation (atempo) ist ein Quadrat mit zwei unregelmäßigen Strichen im linken, oberen Eck. Sie stehen für das Fingerschnipsen, das als manuelle Reaktion oft auf eine überraschende mentale Erkenntnis folgt: (Schnipp) „Hey! So hab‘ ich das noch nie gesehen!“
Beim Erzählen über unser Tun, schnippten wir offenbar immer wieder – so oft, bis die Grafikerin, die unser Logo entwerfen sollte, plötzlich ausrief: „Das ist es!“
Neue Blickwinkel auf Gewohntes zu entdecken; Altbekanntem neue und ungewöhnliche Deutungen oder Aspekte ab zu gewinnen – das scheint ein gemeinsamer Nenner für viele unserer Initiativen zu sein. Seit gut 25 Jahren kreisen sie um die Lebenssituation von Menschen mit Lernschwierigkeiten. Und immer wieder entdecken wir im Brennglas der Arbeit mit dieser Zielgruppe, dass Lösungen für deren Probleme unsere gesamte Gesellschaft klüger machen.

Wann habt Ihr die Leidenschaft für dieses Projekt entdeckt?

Fragen zu stellen, Dinge in Frage zu stellen – das war uns offensichtlich schon sehr früh eigen. Nicht immer wird diese Eigenschaft in Organisationen als hilfreich angesehen und geschätzt. Um nicht beim Fragen stehen zu bleiben, haben wir auch früher schon immer wieder eigene Initiativen entwickelt.
Die Begegnung mit den für unseren Kulturraum damals höchst ungewöhnlichen Ideen der Selbstvertretungsbewegung „people first“ vor etwa 15 Jahren inspirierte uns dann so sehr, dass wir unsere gesicherten Positionen in der Leitung einer Sozialorganisation aufgaben, um noch einmal einen ganz anderen Zugang zu versuchen.

Hat es dafür einen bestimmten Auslöser für diese Initiative gegeben?

Ja, es war die Unzufriedenheit von Menschen mit Lernschwierigkeiten und Behinderungen mit den ihnen angebotenen Betreuungsangeboten (auch unserem eigenen). Wir erkannten, dass es die Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer war, die im Designprozess dieser Services zuvor gefehlt hatte.
Um dies nachhaltig zu verändern, braucht es aber nicht allein einen mindset-change bei Behörden und Fachleuten im Sozialbereich. Auch die Nutzerinnen und Nutzer müssen viel lernen, um sich als Expertinnen in diesem Designprozess zu beweisen und behaupten.

Und warum ist es dann das Projekt „Leicht Lesen“ geworden?

Zugang zu Information und Bildung ist eine Grundvoraussetzung, damit Menschen mit Lern-schwierigkeiten in gesellschaftlich anerkannte und aktive Rollen wechseln können. Umgekehrt wirkt schwer verständliche oder nicht zugängliche Information als Barriere für sie so, wie Treppen für Menschen mit Rollstuhl.

Spannend fanden wir aber immer schon, dass dies nicht bloß für diese Zielgruppe gilt.
Adressatinnengerechte Information ist ein Mega-Thema in unserer Informationsgesellschaft.
Zugang zu verständlicher Information ist ein Schlüssel zur Welt – und die Lösung „Leicht Lesen“ erweist sich als hilfreich für ganz viele Menschen. Nämlich überall dort, wo Sprachkenntnisse oder Vorwissen fehlen; oder auch dort, wo unsere Aufnahmefähigkeit eingeschränkt ist – etwa in akuten Krisensituationen.

Was würde der Welt abgehen, wenn es euch nicht geben würde?

Vielleicht ein paar Fragen als Voraussetzung für neue Antworten.

Wo findet Ihr den Raum um Eure Leidenschaft ausleben zu können?

Die Entscheidung, die wir vor gut 15 Jahren trafen, nämlich noch einmal völlig neu anzufangen, eröffnete uns diese Räume. Allerdings reicht das Gründen einer eigenen, neuen Organisation nicht aus; der Freiraum muss – etwa durch die Reduktion von Abhängigkeiten von herkömmlichen Finanzierungsformen oder das Einführen neuer Organisationsmodelle – immer wieder neu erkämpft werden.

Worauf verzichtet Ihr, um Eure Leidenschaft ausleben zu können?

Bei näherem Hinsehen könnten wir da vermutlich Einiges entdecken. Die meiste Zeit sind wir allerdings davon fasziniert, zu sehen, was wir im Rahmen unsers Tuns bekommen und dazugewinnen.

Was ist eigentlich das Schönste bei Eurer Arbeit?

Zu sehen (und selbst darüber zu staunen), welche Rollenwechsel Menschen mit Lernschwierigkeiten und Behinderung tatsächlich „against all odds“ schaffen. Denn das haben wir als Gradmesser für die Wirkung in unser Leitbild eingebaut: Schaffen wir es, Menschen mit Behinderung dabei zu unterstützen, aktive und anerkannte Rollen in unserer Gesellschaft einzunehmen, die man ihnen früher nicht zutraute oder gar aktiv verschloss.

Wenn dann eine Frau, die bis zu ihrem vierzigsten Geburtstag ohne Job und ohne Einkommen durch Behindertenwerkstätten tingelte, regelmäßig montags mit all den Managern der Grazer Automobilindustrie in die Frühmaschine nach Frankfurt oder Berlin einsteigt, weil sie als ausgebildete Expertin für Nutzer-Qualität dort beruflich zu tun hat, dann sind das die Augenblicke, für die man arbeitet.

Wer sind Eure wichtigsten und stärksten Unterstützer?

Da gibt es viele. Verschiedene behinderte Menschen zum Beispiel, die sich deutlich artikulieren und zeigen, dass sie nicht nur selbstbestimmt und selbstständiger sein können, sondern das auch wollen. Dadurch können wir sehen, dass das, was wir tun, auch gewünscht wird.
Aber auch andere kluge und engagierte Menschen, die sich freiwillig für unsere Sache einsetzen, bei uns mitarbeiten, uns kritisch begleiten und beraten, und Organisationen, die speziell Social Entrepreneurship unterstützen wollen, zum Beispiel Ashoka oder BonVenture.

Wer baut Euch auf, wenn es einmal nicht so klappt?

Da sind besonders unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr wichtig für uns. Mit ihnen können wir gemeinsam reflektieren, warum was nicht geklappt hat, aber vor allem auch wieder auf unsere wirklich wichtigen Ziele fokussieren. Am Wichtigsten ist aber das gegenseitige Vertrauen. Das gibt uns gerade in schwierigen Zeiten die nötige Energie, nicht aufzugeben.

Wohin wird Euch eure Arbeit noch bringen? Gibt es noch geheime Projekte?

„Geheim“ – im Sinn von: das würden wir gern machen, sehen aber noch keine Chance zur Umsetzung – ist das Vorhaben, Menschen, die sich beim Lesen schwer tun Zugang zu Themen zu verschaffen, die für unsere aller Zukunft enorm wichtig sind. So wird etwa Jahr für Jahr beim „Europäischen Forum Alpbach“ die Zukunft verhandelt, Olga und Otto Normalverbraucher haben aber dabei nicht mal die Gelegenheit auch nur rudimentär mit zu bekommen, worüber denn all die gescheiten Menschen dort debattieren.
Leider haben wir es bisher nicht geschafft, einen Sponsor für unsere Idee zu gewinnen, wenigstens einige ausgewählte Inhalte der Alpbacher Gespräche in verständliche Form zu übertragen und via Internet-Blog oder als Lehrmaterial für Bildungseinrichtungen zu verbreiten.

Wir finden es nicht nur arrogant, sondern auch politisch gefährlich, die politischen Meinungsbildungsprozesse großer Bevölkerungsgruppen den Boulevardmedien zu überlassen
(und sich dann darüber zu wundern, wenn ihre politischen Einstellungen und Entscheidungen sehr simpel zu sein scheinen). Wir sähen es als vornehme Aufgabe etwa auch sogenannter Qualitätsmedien, wenigstens Teile ihrer qualitätsvollen Information auch in einfacher Form zur Verfügung zu stellen.

Wie gelingt es Euch Menschen für Eure Leidenschaft zu begeistern?

Zunächst einmal hat uns ja jemand anderer mit seiner ‚Ansage’ und seinem Auftreten inspiriert. (Andrew Lee, siehe unten, zur Gründungsidee.) Und diese Idee, nämlich, dass Lernen für alle Menschen möglich ist und dazu führt, dass man „über sich hinaus wachsen kann“, die ist einfach für viele Menschen eine schöne Idee. Sie gibt Hoffnung auch für einen selbst, dass Entwicklung immer möglich ist und dort, wo sie stattfindet, total beglückend wirkt.

Was sagen eigentlich Eure Freunde, Euer Umfeld, Eure Familien zu diesem Engagement?

Da sich bei uns Arbeit und Privatleben einigermaßen vermischen, leben viele davon in irgendeiner Form mit. Sei es, dass sie direkt involviert sind und mitarbeiten, sei es, dass sie die Entwicklung von atempo aufmerksam verfolgen.
Während es anfangs für einige davon recht schwierig war, Dritten zu erklären, was wir da eigentlich wirklich und genau machen, bessert sich das in dem Ausmaß, als das, was wir tun bekannter wird und teilweise ja schon im Mainstream ankommt.

Habt Ihr Tipps für unsere LeserInnen?

Eine lohnende Erfahrung und nebenbei auch viel Spaß kann der Versuch bringen, selbst einmal zu versuchen, einen komplexen Sachverhalt ganz einfach zu formulieren. Häufig folgt diesem Versuch die Erkenntnis, dass man sich in leicht verständlicher Sprache ganz schlecht über eigene Wissenslücken oder Unklarheiten hinweg schummeln kann.

Habt Ihr einen Wunsch?

Im Zusammenhang mit unserem Thema blieb bislang ein großer Wunsch unerfüllt: Wir würden gerne nicht nur Behörden- oder Firmeninformationen in leicht verständliche Sprache übersetzen, sondern auch wichtige oder einfach „schöne“ Werke aus der Literatur.

Wen sollten wir noch für „way to passion“ interviewen?

Es gibt einen in der Schweiz lebenden Österreicher – Freddy Christandl – der eine spannende Leidenschaft für nachhaltig produzierte und hochwertige Lebensmittel hat. Das klingt jetzt nicht besonders aufregend. Christandl schafft es aber, etwa so simple Produkte wie Erdäpfel oder Hühner zu Spezialitäten zu entwickeln, für die Kunden ein Vielfaches des üblichen Preises bezahlen und froh sind, wenn sie diese überhaupt erhalten ‚dürfen‘. Die Hühner etwa leben in Bergregionen mit ganz spezieller Vegetation und so speziellem Nahrungsangebot (er kann das natürlich ganz genau erklären), sie werden am Hof geschlachtet und auf eine spezielle Art weiterbehandelt, für die eine Ausnahmeregelung der eidgenössischen Schlachtordnung erwirkt werden musste … Kurz ein Freak mit einer echten Passion für speziell schmeckendes Essen. Eigene Berufsbezeichnung „Genusstrainer“.

Bei der Initiative „Leichter Sprache“ handelt es sich ja um eine atempo Initiative. Daher noch einige ergänzende Fragen zu atempo. Möchte ich dann ebenfalls ins Interview einbauen.

Was verbirgt sich hinter atempo?

atempo ist ein Beispiel für eine sogenannte „Hybrid“-Organisation. Also ein Unternehmen, das eine Mischung aus NPO und Firma ist. Im NPO Teil arbeiten wir mit Menschen mit Lernschwierigkeiten und Behinderung als Co-Creatoren daran, deren Leben durch spezielle Bildungsangebote so zu verändern, dass sie bezahlte Arbeit finden und oft ganz neue und bislang eher ungewöhnliche berufliche Rollen einnehmen können. Etwa als Evaluatorinnen und Experten für die Qualität sozialer Dienstleistungen oder für Barrierefreiheit und verständliche Information.
Im Firmen-Teil von atempo verbreiten wir soziale Wirkung mit unternehmerischem Ansatz. Wir haben dazu eigene Marken entwickelt und sie zum Gegenstand eines rapide wachsenden Social Franchising Netzwerkes in Österreich, Deutschland und der Schweiz gemacht. Dort finden auch die Übersetzungen von Informationen nach dem „Leichter Lesen“ Konzept statt.
a‘tempo ist übrigens ein Begriff aus der Welt der Musik. Wir verwenden ihn in der Bedeutung von „im passenden Tempo“. Dies auf Grund der Rückmeldung von Menschen mit Lernschwierigkeiten, sie könnten lernen, ging nicht alles für sie viel zu schnell.
Bei atempo arbeiten zur Zeit etwa 80 Menschen und zirka 20 davon sind Menschen mit Lernschwierigkeiten und Behinderung.

Was war die Gründungsidee?

Vor der Gründung von atempo stand die Erfahrung, dass behinderte Menschen mit den ihnen angebotenen Services unglücklich und unzufrieden waren – auch wenn diese aus Sicht der Fachleute hohe Qualität hatten. Die Begegnung mit der Selbstvertretungsorganisation „people first“ aus England öffnete uns um die Jahrtausendwende die Augen: Was beim Design der Services fehlte, war die Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer. (Das ist heute der Kern unserer Evaluationsmethode, für die Menschen mit Lernschwierigkeiten als Evaluatorinnen und Evaluatoren arbeiten.)
Besonders beeindruckte uns das Auftreten des Chairman von people first London, Andrew Lee und seine ‚Ansage‘: „Wir können alles lernen! Wir brauchen nur die richtigen Hilfsmittel und unser Tempo.“ Und genau das versuchen wir bei atempo umzusetzen. Richtige Hilfsmittel für gutes, erfolgreiches Lernen im passenden Tempo.

Was gibt es sonst noch an atempo Projekten?

Neben dem „Leicht Lesen – Konzept“, das wir mit dem Markennamen „capito“ verbreiten, bieten wir für zirka 80 Menschen mit Lernschwierigkeiten und Behinderung in unserem Bereich „Bildung & Karriere“ Schulungen und Job-Coaching an und unterstützen sie auf ihrem Weg, zu bezahlter Arbeit zu finden und – wenn wir diese gefunden haben, nachhaltig erfolgreich zu sein.
Unter der Marke ‚nueva‘ versuchen wir unsere wohl ungewöhnlichste Idee zu verbreiten. Nueva steht für „Nutzerinnen evaluieren“. Es geht dabei darum, das behinderte Menschen eine machtvolle Rolle beim Design und bei der Evaluation von sozialen Dienstleistungen erhalten. Das Ziel ist, dass behinderte Menschen selbst definieren und entscheiden können, was aus ihrer Sicht Qualität ist und was nicht. Und dass letztlich dadurch die Dienstleistungen für sie besser ihren Bedürfnissen entsprechen und sie zufriedener und glücklicher leben können.

Gibt es sonst noch Geschichten, Erfahrungen die du uns erzählen willst?!?

Eine nette capito Anekdote (wahr) am Schluss: Der Aufsichtsrat der Stadtwerke einer österreichischen Landeshauptstadt akzeptierte vor einiger Zeit den Quartalsbericht seiner Controlling-Abteilung einfach nicht mehr in der gewohnten Form. Begründung: Wir sind Aufsichtsräte und sollen rasch gute Entscheidungen treffen. Wir sind nicht länger gewillt, dies auf Basis dieser im „Controller-Kauderwelsch“ verfassten Berichte zu tun. Die Folge war eine Anfrage der Stadtwerke um Hilfe bei uns. Seither wissen wir, das capito auch „Leicht Lesen für Aufsichtsräte“ kann – und das zur höchsten Zufriedenheit unsers Kunden.